
Wachstum ist tiefes Erlauben
Manchmal dauert es alles so lange, ich mache meine Erfahrungen, wiederhole die scheinbar selben Fehler, bin verwirrt, es tut weh, ich hoffe, versuche es weiter – bevor dann irgendwann plötzlich klar wird, mit was wir eigentlich gerungen haben. AH! Kennst du das? Dann macht es auf einmal klick…
Zusammenhänge werden erkennbar, wo vorher keine waren. Wachstum! Wenn auch für uns selbst für lange Zeit unsichtbar, bemerken wir Wachstum nicht, bis wir etwas sehen können und eine Veränderung manifestiert haben – was wir dann meist plötzlich und erst rückblickend verstehen können.
Mir ist das Thema Wachstum aus meiner beruflichen Laufbahn sehr vertraut, wo es stets um mehr, schneller, effizienter ging. Dabei blieben Menschlichkeit, Eigenheiten, kreative Freude auf der Strecke. Es gibt eben ein Ziel: materielles Wachstum.
Als ich begann mich mit Spiritualität zu beschäftigen, begegnete mir auch dort das Thema Wachstum. Jedoch ist der Fokus anders, es geht um mein inneres Wachstum. Die innere Welt entdecken, wer bin ich, was sind meine Gaben, Talente, warum bin ich hier?
Doch als ich das mir bekannte Prinzip – es könnte auch ein sehr deutsches Prinzip der Disziplin sein 🙂 – vom äußeren Wachstum über Leistung, Funktionieren und Logik gepaart mit einer Prise Strenge, Urteil und Perfektionismus, nun für mein inneres Wachstum anwendete, dann wurde es ziemlich unangenehm und anstrengend. Ich wollte kontinuierlich an mir arbeiten, Blockaden lösen, Ängste überwinden, Zweifel bändigen, die Gedanken beobachten, in die eigene Größe kommen, wachsen – an ein Ziel, eine Sehnsucht, ein Ideal gelangen.
Irgendwann ging es einfach nicht mehr und fing ich an zu spüren, dass ich etwas anderes brauchte und dass wir unserer inneren Welt nur mit Respekt, Mitgefühl und Demut nähern können.
Es ist das Reich des Unerforschten, des Archetypischen, der Bilder, Symbole und Emotionen. Hier gibt es keine Logik, keine Moral, keine Regeln an die wir uns halten können. Es ist unsicher, wild, chaotisch, lebendig.
Das ist ein Moment in wahrer Intimität.
Da geschieht Wachstum in jedem Moment – das ist Leben. Wir können gar nicht anders als zu wachsen, wir tun es jeden Tag, so wie unsere Haare, unsere Fingernägel. Wachstum ist Evolution, und Evolution ist in unserem Leben inbegriffen. Ob wir wollen oder nicht – da geschieht Veränderung, gibt es keine Sicherheit, kann von heute auf morgen dein ganzes Leben auf den Kopf gestellt werden – und nein, du hast keinen Fehler begangen, es ist nicht deine Schuld. Es ist Wachstum.
Ich habe gelernt, dass Wachstum nicht logischer Fortschritt bedeutet oder „irgendwo hin zu gelangen“, es ist für mich keine vorwärts Bewegung – es ist für mich eine Art Forschung und ein tiefes Erlauben – uns in das Durcheinander und Chaos des Lebens zu wagen, unsere Verletzlichkeit und Sterblichkeit wieder zu erlauben, in das Dickicht in uns und unserer Beziehungen zu wagen und unsere Menschlichkeit, Vergebung, Verständnis, Respekt wieder zu finden. Unser Herz und unsere Seele.
Dann hören wir auf, die Gleichgültigkeit gegenüber uns selbst und anderen zu füttern. Unseren Schmerz in unserem Herz zu fühlen, ihm zuzuhören…und all die Schichten und Mauern darum herum langsam abzubauen. Der Schmerz ist nicht unser Herz, sondern dass wir unser Herz nicht mehr richtig spüren können und abgeschnitten sind von der Liebe in uns.
Wenn du die Verbindung mit dir selbst wieder spürst, beginnst du auch die Verbindung mit allen anderen wieder wahrzunehmen, wie ähnlich wir uns alle sind.
Es ist eine Bewegung nach innen und unten, tiefer hinein in das Mysterium, das wir nie begreifen oder verstehen werden. Es ist beängstigend und berührend gleichzeitig. Aber mit jedem Atemzug, mit liebevollem Umgang, können wir mehr Vertrauen lernen – unsere Kontrolle loslassen (die wir eh nie hatten) und etwas neues erkennen.
Dann bedeutet Wachstum vielleicht, dass wir uns ehrlich im Spiegel betrachten und beginnen uns selbst mit unserer tiefsten Dunkelheit zu akzeptieren.
Was entsteht dann, fragst du? Erzähl mir, was du entdeckst… <3
Liebe Jasmin,
auch wenn auf dem Button „Kommentar absenden“ steht, liegt es mir fern, Dich kommentieren zu wollen. Vielmehr möchte ich Dir für Deine Worte danken – Du gibst Dir immer so viel Mühe – und ich vermute, dass ich als Mann, noch dazu mit so vielen Jahren und auch mit einem ganz anderen Leben, andere Gedanken zeige; da ist bei mir anderes gewachsen und ich schau mal, wie es gerade weiter wächst.
Vorweg will ich erwähnen, dass Wachstum nun nicht immer etwas Schönes ist; ich muss leider zur Kenntnis nehmen, dass auch die Dummheit, der Neid und die Gier auf der Welt immer wieder neu wachsen – eine schmerzliche Erfahrung für mich – aber das ist gar nicht Dein Thema.
Beim Wort „Wachstum“ fiel mir die Calla hinten im Garten ein. Ende Mai streckt sich ihr Blütenkelch aus der Erde, innerhalb von Stunden strebt er dann zum Himmel – die Calla öffnet ihren Mantel, zeigt der Welt ihr Innerstes, ist dabei sehr verletzlich, sie faltet sich immer weiter auf – zeigt sich erhaben, kraftvoll, lieblich – ist wie eine Tänzerin, die gerade ihre Bewegungen und Gefühle in den Himmel tanzen möchte, sie will den Augenblick anhalten, ihn noch etwas besitzen – vergeblich. Nach einem Tag ist all ihre Schönheit vorbei. Unter ihrem eigenen Gewicht bricht ihr Kelch in sich zusammen.
Ist Wachstum also doch Vorwärtsbewegung? Ziel? Ja ….
Und Nein. Es braucht den schönen Zufall, überhaupt durch Laub und Gestrüpp hindurch wachsen zu können, auch die helfende Hand des Gärtners (ich), seine Empathie, ist gefragt, weiterhin das Vermögen, die Einzigartigkeit des kurzen Blühens zu erkennen, wahrzunehmen, zu genießen und später dankbar zu erinnern – dann die Traurigkeit dieses Momentes zu spüren, und, weil ich am Schluss bin: Wehmut fühlen zu können.
Fröhliche Grüße zu Dir
Hans
PS: Vielleicht nimmt diese Seite ja auch mein Bild der Calla auf